FULL BLAST (BRÖTZMANN / WERTMÜLLER / VANDERMARK / .. )
SKETCHES & BALLADS (TROST RECORDS)
PETER BRÖTZMANN - Tenor Sax + Tárogató KEN VANDERMARK - Bariton Sax + Klarinette THOMAS HEBERER - Trompete MARINO PLIAKAS - E-Bass DIRK ROTHBRUST - Percussion + Timpani MICHAEL WERTMÜLLER - Drums + Komposition Aufnahme: live bei den Donaueschinger Musiktagen, 16.10.2010, aufgenommen vom SWR Tonmeister - Alfred Habelitz Toningenieur - Wolfgang Bachner Mix- Manfred Seiler Produzent- Michael Wertmüller SWR Produzent - Reinhard Kager, SWR2 Redaktion Neue Musik/Jazz Kompositionsauftrag des SWR Cover - Brötzmann Design - Klaus Untiet, Brötzmann Notizen zu Michael Wertmüllers "sketches and ballads" Wer die Partitur kennt, muss deren Titel zunächst für ein Understatement halten.
Über fünfzig dicht beschriebene Seiten, bei denen es den Interpreten manchmal wohl im wahrsten Sinn des Wortes schwarz vor den Augen werden dürfte.
Denn Michael Wertmüllers "sketches and ballads" wimmeln von unspielbar scheinenden Rhythmen, die der Komponist aus seinem reichen Erfahrungsschatz als Schlagzeuger gewann.
Sechs- und siebenbalkige 256stel und 512tel sind keine Seltenheit in Wertmüllers Stück, in dessen graphischem Erscheinungsbild sich viel von der Wildheit und Dynamik seiner Musik spiegelt.
Und diese hoch elaborierten Notate sollen "sketches", also Skizzen sein? Das Rätsel löst sich erst, wenn man Wertmüller über sein Stück befragt, das im Auftrag des SWR für die NOWJazz Session der Donaueschinger Musiktage 2010 entstanden war.
Als Referenz an Miles Davis' "Sketches Of Spain" sei das Wörtchen ,sketch' gedacht, erklärt der bei Dieter Schnebel ausgebildete Schweizer Komponist und Schlagzeuger im Gespräch, weil ihn vor allem die komprimierte Dichte an Gil Evans' Komposition für Davis ungebrochen beeindrucke.
Und doch steckt auch etwas Programmatisches im Wort ,Skizze': Die Partitur von "sketches and ballads" enthält zwar vollständig auskomponierte Teile, doch seine endgültige Form erhält das Stück erst dann, wenn diese Partikel durch freie Improvisationen zu einem runden Ganzen verbunden werden.
Michael Wertmüller hat sich also für einen Hybrid entschieden: Die komponierten Teile geben dem knapp vierzigminütigen Stück eine klare Struktur vor, deren Sinn sich aber erst durch das improvisatorische Geschick der Interpreten enthüllt.
Nicht nur deshalb sind die "sketches and ballads" eindeutig dem Jazz zuzuordnen, auch die ausnotierten Passagen pulsieren im jazzigen Groove - nicht zuletzt durch den freien Umgang der Interpreten mit dem Notenmaterial und deren jazzgemäße Phrasierung.
Bei der Uraufführung des Stücks am 16. Oktober 2010 stand ein Sextett auf der Donaueschinger Bühne, dessen Kern die Gruppe "Full Blast" bildete, ein international hoch gehandeltes Trio, das von der nimmermüden Energie des Saxophonisten Peter Brötzmann, dem knalligen E-Bass-Spiel von Marino Pliakas und den knüppelharten Schlagzeugwirbeln Michael Wertmüllers vorangetrieben wird.
Zur Realisierung der "sketches and ballads" wurden zusätzlich drei Freunde des Trios engagiert: Der amerikanische Saxophonist Ken Vandermark spielt in jüngster Zeit immer wieder mit "Full Blast" zusammen und war bei "sketches and ballads" für die eigenwilligen Klangfarben des Baritonsaxophons und für die Klarinette zuständig; der deutsche Trompeter Thomas Heberer zählt derzeit zu den kreativsten und technisch versiertesten Musikern der New Yorker Downtown-Szene; und mit dem Perkussionisten Dirk Rothbrust, der als Interpret neuer Musik in der Musikfabrik NRW bekannt wurde, wirkte ein Musiker mit, der durch die oft subtil dialogisch angelegten Klänge seines Paukensets für ganz eigenwillige Akzente sorgte.
Trotz dieser doppelten Schlagwerk-Besetzung beschränken sich die "sketches and ballads" auf nur wenige, dramaturgisch wohl überlegte Fortissimo-Passagen.
Denn so stark das Stück in den ausnotierten Teilen geprägt ist von Wertmüllers hoch differenziertem Umgang mit der Zeit und Zeitproportionen - ursprünglich hätte das Stück ja "sketches and ballads of the well tempered time" heißen sollen -, so fesselnd sind deren fast zärtlich zu nennende Widerparts: die Balladen, die Peter Brötzmann gleichsam auf den Leib geschrieben wurden.
In jüngster Zeit hat der wegen seines markant-rauen Tons international bekannt gewordene deutsche Saxophonist - auch auf der Klarinette und der Tárogató, einem ungarischen Holzblasinstrument - einen oft geradezu melancholischen Zug entwickelt.
Das ist zwar nicht ganz neu, doch war in seinen wilden Jahren kaum bemerkt worden, dass Brötzmann auch schon damals gehaltvolle Balladen blies.
Die Tendenz zu einem getragenen Tonfall hat sich in den letzten Jahren allerdings verstärkt.
Brötzmanns geradezu anrührendes Balladenspiel bildet in Wertmüllers Stück den ruhigen Gegenpol zu den oft hektisch vorangetriebenen notierten Teilen.
Mit "sketches and ballads" ist es Michael Wertmüller gelungen, dem wildwüchsigen Free Jazz kompositorische Strukturen zu verpassen, ohne ihm deshalb Zügel anzulegen.
Denn schließlich kreist dieser formal strukturierte, auch um heftige Rockelemente bereicherte "Neo Free Jazz" immer noch um denselben Kern wie in den 1960er Jahren: um die Kritik an politischen Zuständen und gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten, die ein Maß an Unerträglichkeit gewonnen haben, dass die breite Masse davon heute nahezu paralysiert erscheint.
Das Bewusstsein für die mögliche Utopie einer Welt ohne Armut, ohne Hunger, ohne Unterdrückung zu wecken, verbirgt sich hinter einem wilden, ungebärdeten Aufschrei als Ziel.
Dass er eine in elektronisch-medialer Lethargie versinkende Gesellschaft wachzurütteln vermöge, ist diesem musikalischen Warnruf zu wünschen.
Reinhard Kager (SWR2